Zürich: Familienunternehmen wirft alle Mieter raus – «Schock»

An der Manessestrasse in Wiedikon ZH kündigt ein Familienunternehmen allen Mietenden, um die Wohnhäuser sanieren zu lassen. 24 Mietparteien sind betroffen.

Das Wichtigste in Kürze
- In Wiedikon ZH erhalten 24 Mietparteien die Kündigung – wegen einer Gesamtsanierung.
- Die Verwaltung will die Betroffenen unterstützen und organisiert eine Infoveranstaltung.
- Eine Mieterin vermutet dahinter eine Alibiübung.
Einen Tag vor der Kündigung habe sie noch mit ihrem Partner darüber gesprochen, dass es früher oder später auch ihr passieren könnte, sagt Johanna Vogel. Aus Angst vor negativen Konsequenzen bei der späteren Wohnungssuche will sie anonym bleiben. «Obwohl man es irgendwie erwartet, wenn man in einem alten Haus wohnt, war es ein Schock.»
Seit drei Jahren wohnt Vogel an der Manessestrasse 109/111. An den beiden Liegenschaften wurde schon länger nichts mehr gemacht: Die Wohnungen sind einfach ausgestattet, aber laut der Mieterin in einem guten Zustand.
Anders sieht das die Schaeppi Familien AG. Ihr gehören die beiden Häuser in Alt-Wiedikon.
Bis Ende September 2026 sollen alle Mieterinnen und Mieter ausgezogen sein, damit die Gesamtsanierung der 1937 erbauten Liegenschaften starten kann.
Als Grund nennt die Eigentümerschaft neben dem Alter auch die ökologischen Schwächen sowie eine «nachhaltige Verbesserung der Wohnqualität».
«Wo sollen diese Menschen hin?»
Im Kündigungsschreiben verspricht die Schaeppi Grundstücke AG den Betroffenen Unterstützung bei der Wohnungssuche. Das Grossunternehmen verwaltet schweizweit 35’000 Mietverhältnisse.
An einer Infoveranstaltung sollen allfällige Fragen geklärt und das Bauprojekt vorgestellt werden – man gibt sich nahbar und mieterfreundlich.

Johanna Vogel hingegen spricht von einer «Alibiübung». «Der Vermieterin geht es hauptsächlich darum, jene Mieterinnen und Mieter abzufangen, die das Bauvorhaben durch Anfechtungen verzögern könnten», kritisiert Vogel.
Sie glaubt, viele ihrer Nachbarinnen und Nachbarn würden gar nicht verstehen, was die Kündigung für ihre Zukunft bedeutet und dass sie auch nicht von den Unterstützungsangeboten profitieren könnten.
Die Mieterin erzählt von einem alten Ehepaar im Haus – beide über 80-jährig – und Menschen mit Migrationshintergrund, die das Schreiben teilweise nicht verstehen und ihre Rechte nicht kennen würden.
«Wo sollen diese Menschen hin?», fragt sich Vogel. Zwar will die Verwaltung eigenen Aussagen zufolge die bisherige Mieterschaft bei der Vergabe der frisch sanierten Wohnungen berücksichtigen, doch Vogel bezweifelt, dass sich irgendjemand aus dem Block die neuen Mieten noch leisten könnten.
Wie viel sie genau für ihre 2-Zimmer-Wohnung bezahlt, möchte Vogel nicht öffentlich bekanntgeben, damit sie gegenüber der Verwaltung unerkannt bleibt, doch der Mietzins entspricht ungefähr jenem, der im Quartier als üblich gilt.
Die Angebotsmieten für eine ähnlich grosse Wohnung hingegen liegen laut der Immobilienbewertungs-Plattform Real Advisor in Alt-Wiedikon aktuell bei durchschnittlich 2400 Franken pro Monat.
Familienunternehmen will «keine Stadt für Reiche»
Die Eigentümerin strebt den Mittelweg an: Eine 2-Zimmer-Wohnung soll es ab 1900 Franken, eine 3-Zimmer-Wohnung ab 2300 Franken und eine 4-Zimmer-Wohnung 3000 Franken pro Monat geben, schreibt Schaeppi Grundstücke AG auf Anfrage.
Da jedoch die genauen Vertragskonditionen sowie die konkreten Bezugsdaten noch unbekannt seien, könne man den Mieterinnen und Mieter keine Zusage garantieren.

Geleitet wird die Schaeppi Grundstücke AG von Béatrice Schaeppi. Ihr Urgrossvater hatte das Unternehmen im Jahr 1935 gegründet, seit zwei Jahren ist sie Firmeninhaberin.
Als Präsidentin der Vereinigung Zürcher Immobilienunternehmen äussert sie sich auch öffentlich zu Wohnthemen. «Ich möchte in Zukunft keine Stadt, die sich nur noch Reiche leisten können. Wir brauchen auch eine gute soziale Durchmischung», wird Schaeppi in einem Porträt der «NZZ» vergangenen Januar zitiert.
Dass die Leerkündigung an der Manessestrasse diese Durchmischung gefährden könnte, möchte das Unternehmen nicht kommentieren. Auf die Frage hingegen, weshalb sich die Verantwortlichen gegen eine Sanierung im Bestand oder dem Rochadeverfahren mit Übergangswohnungen entschieden haben, antwortet man bereitwillig: Diese Variante sei nicht praxistauglich und würde bedeuten, dass eine weitere Liegenschaft leergekündigt werden müsste.
Mieterinnen und Mieter vernetzen sich
Für Johanna Vogel unverständlich. Sie hat sich inzwischen an den Mieterinnen- und Mieterverband gewandt, um rechtliche Schritte zu prüfen. Da seine Antwort noch aussteht, wisse sie noch nicht, ob sich eine Anfechtung der Kündigung überhaupt lohnt.
Sie wird an der Infoveranstaltung der Verwaltung teilnehmen – auch wenn sie sich nur wenig davon erhofft. «Ich glaube nicht, dass sich etwas an der jetzigen Situation ändern wird. Aber immerhin haben wir die Möglichkeit, die Eigentümerschaft mit unseren Sorgen und Ängsten zu konfrontieren», sagt Vogel.
Wie es danach weitergeht und ob sie sich gegen die Kündigung wehren will, steht demnach noch in den Sternen. Klar ist aber: Vogel und ihre Nachbarinnen und Nachbarn wollen sich zusammentun und jenen unter die Arme greifen, die auf dem Wohnungsmarkt weniger Chancen haben.
Sie selbst macht sich keine Sorgen, bis in eineinhalb Jahren eine Nachfolgelösung zu finden, «aber ich habe einen deutschen Namen und einen ordentlichen Lohn». Andere hätten diese Privilegien nicht.
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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autorin Isabel Brun ist Redaktionsleiterin beim Zürcher Stadtmagazin.