Zürcher Langstrasse: Gebäude abgerissen – Kultshop muss weichen
Zürich 04.06.2023 - 06:39
Seit 33 Jahren führt Andy Bleiker seinen Fischerladen im Zürcher Langstrassenquartier. Nun wird das Gebäude abgerissen und alle Mietparteien müssen raus.
Das Wichtigste in Kürze
- Nach 33 Jahren muss «Andy's Fischershop» schliessen.
- Befristete Mietverträge sind eine gängige Praxis bei gewerblich vermieteten Läden.
- Diese bringen Gewerbe in Bedrängnis.
Andy Bleiker steht im Eingang seines Geschäfts, die Sonne scheint in sein Gesicht, sodass er blinzeln muss, die Arme sind verschränkt. Heute ist ein milder Frühlingstag. Wenn es das Wetter zulässt und er gerade keine Kundschaft bedient, steht er öfter auf den Stufen vor seinem Laden und beobachtet das Geschehen. «Es läuft immer was hier, das mag ich», sagt er. «Andy’s Fischershop» liegt mitten im Kreis 4 – zwischen Helvetiaplatz und Langstrasse.
Bleiker führt den nach ihm benannten Shop seit 33 Jahren – so lange wie keiner seiner vier Vorgänger. Seit rund 100 Jahren werden in diesem Lokal Fischereiartikel verkauft. Als Bleiker den Laden Anfang der 90er von einem Freund übernimmt, ist er 24 Jahre alt.
Davor machte er eine Lehre als Maschinenmechaniker und arbeitete ein Jahr im Ausland. Kaum zurück, ergab sich die Möglichkeit, das Geschäft zu übernehmen. Und seither steht er hier. Bis auf einige Wochen Betriebsferien im Jahr, sechs Tage die Woche.
So hätte es auch noch ein paar Jahre weitergehen sollen, erzählt der 57-Jährige. Bis zur Pension wollte er eigentlich nichts Neues mehr anfangen. Doch dann kam vor zwei Monaten völlig unerwartet die Nachricht, dass der befristete Mietvertrag nicht verlängert wird und er Ende nächsten Jahres raus muss.
Das Gebäude werde abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, teilte man ihm schriftlich mit. Neben dem Fischershop sind acht Wohnparteien und das Restaurant Tremondi vom Abriss betroffen.
«Orts- und Quartierüblichkeit» treiben die Mietpreise in die Höhe
Befristete Mietverträge sind eine gängige Praxis bei gewerblich vermieteten Läden oder Lokalen. «Davon profitieren aber in erster Linie die Vermieter», kritisiert Sibylle Uhl die Co-Präsidentin vom Gewerbeverein. Denn: Vermieter können ihren Mietzins bei jeder Vertragsverlängerung der «Orts- und Quartierüblichkeit» anpassen.
Diese Richtwerte liegen aber oft deutlich über dem reellen Durchschnitt, weil sie sich an ausgeschriebenen, noch nicht vermieteten Objekten orientieren. Wohnungen, die schon seit vielen Jahren vermietet sind und meist um einiges günstiger sind, werden nicht berücksichtigt. «Wenn man das nun im Zusammenhang mit der Gentrifizierung betrachtet, liegt es auf der Hand, dass kleine- und mittelgrossen Unternehmen zunehmend verdrängt werden», schlussfolgert Uhl.
Auch die Macherin von «Immomailing», Nadia Loosli, kritisiert die gängige Praxis mit der «Orts- und Quartierüblichkeit» scharf. In einem kürzlich erschienen Interview auf Tsüri.ch sagt sie dazu:
«Das ist dermassen daneben, weil es nur bedeutet, dass die Immobilienbesitzer mehr verdienen – nichts anderes als das. Ich habe als Mieterin keine bessere Wohnung oder einen schöneren Spielplatz, wenn die Miete erhöht wird. Es ist eine Zumutung, aber weil die Vermieter so viel Kraft haben, ist es einfach so.» Looslis Aussage bezieht sich auf den Wohnungsmarkt. Die Mechanismen im gewerblichen Bereich scheinen aber ähnlich zu greifen.
Wie hoch die Zahl der verdrängten Gewerbe genau ist, lässt sich nicht beziffern, weil keine Statistiken geführt wird, sagt Sibylle Uhl vom Gewerbeverein. Klar aber ist: «Viele KMU und Kleinstunternehmen, darunter auch die Gastrobetriebe, leiden stark unter den hohen Gewerbemieten in der Stadt. Viele davon leiden zusätzlich noch immer unter den Folgen der Corona-Krise.»
Diese Aussage deckt sich auch mit unserem subjektiven Empfinden. Allein in den letzten drei Monaten berichteten wir von drei Fällen im Langstrassenquartier, die ähnlich vom Schicksal getroffen sind: Der Sindi Markt an der Josefswiese, die «Zukunft» und die Piranha Bar an der Piazza Cella, ein Schuhreparatur-Service am Lochergut und nun trifft es «Andy’s Fischershop» und das Restaurant Tremondi. Sie alle müssen raus, weil die Liegenschaften saniert oder ersetzt und die befristeten Verträge nicht verlängert werden.
Leere Versprechen und unbeantwortete Schreiben
Auch für Alain Diarcon, Inhaber und Geschäftsleiter vom Restaurant Tremondi, kam die Nachricht überraschend. Vor fünf Jahren erfüllte sich der 35-Jährige zusammen mit seinem Partner den Traum vom eigenen Restaurant und eröffnete das Tremondi.
Damals hätten sie den auf drei Jahre befristeten Vertrag von den Vormieter übernommen, erzählt der Gastronom. Als dieser ausgelaufen sei, verlängerten die Eigentümer um zwei Jahre, also bis Ende 2024. «Schon damals kam es uns merkwürdig vor, dass unser Vertrag nur auf zwei, statt wie üblich auf drei oder fünf Jahre befristet ist.» Auf Nachfrage habe es von der Verwaltung geheissen, dass alle bestehenden Verträge neu aufgesetzt werden müssten, deshalb der Zweijahresvertrag.
Statt eines neuen Vertrags kommt im März dieses Jahres ein Schreiben mit der Nachricht, dass der Vertrag Ende 2024 auslaufe und nicht verlängert werde. Diarco ist fassungslos.
Damit hat er nicht gerechnet. «Erst erzählt man uns etwas von neuen Mietverträgen und dann schmeisst man uns einfach raus. Nicht einmal das konnte man uns persönlich sagen.» In den Monaten nahm Diarcon mehrere Male Kontakt auf mit seinem Vermieter und bat um einen Termin, damit der neue Vertrag besprochen werden könne. «Auf kein einziges Schreiben bekamen wir je eine Antwort.»
Das kann und will Alain Diarcon nicht auf sich sitzen lassen. Kurz nachdem das Schreiben bei ihm eingegangen ist, reicht er Beschwerde bei der Zürcher Schlichtungsbehörde ein. Für den 35-Jährigen steht eine Menge auf dem Spiel: Nicht nur emotional liegt ihm und seinem Partner das Restaurant am Herzen, es geht vor allem um eine Menge Geld. Auf dem Restaurant liegt ein Kredit im sechsstelligen Bereich, der abbezahlt werden muss.
Ausserdem: Alain Diarcon verliert nicht nur seinen Laden, sondern auch seine Wohnung, die direkt über dem Lokal ist. Die Kündigung trifft ihn also gleich doppelt. Und dennoch wirkt er relativ gelassen, während er seine Geschichte erzählt. Er glaubt fest daran, dass er vor der Schlichtungsbehörde Recht bekommt und Laden und Wohnung doch nicht aufgeben muss.
Sein Optimismus hängt auch damit zusammen, dass er nicht allein ist. Laut seiner Aussage hat sich das ganze Haus zusammengeschlossen und gegen den Rausschmiss Beschwerde eingereicht. Mitte August trifft Alain Diacron vor der Schlichtungsbehörde auf seinen Vermieter. Gedanken über die Zukunft macht er sich bis dahin keine.
Auf der Suche nach einem neuen Lokal
Andy Bleiker vom Fischershop mag nicht kämpfen. Er hat sich mit der Situation abgegeben. Das, obwohl er kurz nach der Kündigung ernsthaft zu kämpfen hatte.
«Abends im Bett geisterten plötzlich Fragen durch den Kopf: Wie schnell werde ich ein neues Lokal finden? Werden meine Kund mitkommen? Wie mache ich das mit meinem ganzen Material, wenn ich umziehe?»
Mittlerweile hat sich der Fischer gefasst und ist nun auf der Suche nach einem neuen Lokal, am liebsten etwas grösser als das jetzige. Der Gedanke nach Veränderung macht ihm mittlerweile weniger Angst.
Die Liegenschaft gehört Horego, einem Zürcher Immobilienunternehmen mit Sitz im Kreis 10. Unsere Anfrage über die Gründe der Massenkündigung und zu den Neubauplänen blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei Tsüri.ch erschienen. Autorin Noëmi Laux ist Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.