Architekt Kurath: «Mieten haben wenig mit realen Baukosten zu tun»
Zürich 29.10.2023 - 04:08
Architekturprofessor Stefan Kurath nimmt Architekt:innen in die Mangel: Sie müssten politischer werden. Denn die Architektur könne auch die Wohnungskrise lösen.
Das Wichtigste in Kürze
- Für viele Menschen ist es schwierig, in Zürich bezahlbaren Wohnraum zu finden.
- Laut Architekturprofessor Stefan Kurath ist die Immobilienbranche zu konservativ.
- Ausserdem hinderten Normen und Vorschriften oftmals daran, sinnvoll Wohnraum zu schaffen.
Lara Blatter: Ist die Wohnungskrise auch eine Architekturkrise?
Stefan Kurath: Nein. Es ist eine Spekulations- und Bodenhandelskrise. Oft wird die Schuld den Architekt:innen zugeschrieben, aber damit haben wir weniger zu tun, als viele denken.
LB: Wie politisch ist der Architektur-Beruf aktuell?
SK: Leider zu wenig. Wir brauchen mehr politische Architekt:innen. Wir müssen unser Wissen, unsere Meinungen und Anliegen einbringen. Im deutschsprachigen Raum wurde das Politische explizit aus der Architekturtheorie ausgeschlossen.
Das war nicht immer so. In den 60er- und 70er-Jahren gab es eine Wende. Zuvor prägten vor allem Soziolog:innen den architektonischen Diskurs mit und dieser war um einiges politischer. Dann gab es Widerstand, die Architekt:innen haben die «Autonomie der Architektur» ausgerufen.
Ab diesem Zeitpunkt grenzten sie Ausserarchitektonisches von der Architektur aus. Das war ein grosser Fehler.
LB: Greifen Sie als Architekt damit nicht den Berufsstand der Architekt:innen an?
SK: Ja. Meine Position ist insbesondere bei Vorgängergenerationen umstritten. Wenn dir lebenslang gepredigt wird, Architektur sei autonom und müsse sich nicht mit gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzen, dann hat sich das verinnerlicht. Die Architektur hat abgehobene Stararchitekt:innen hervorgebracht, die den Kontakt zur Gesellschaft verloren haben.
Will die Architektur im Alltag wieder an Relevanz gewinnen, dann muss sie aus dieser Bubble ausbrechen und politisch werden. Denn relevant wären wir. Es ist sehr viel architektonisches Wissen vorhanden, wie wir grundlegende Probleme dieser Welt wie etwa die Klimakrise angehen könnten.
LB: Sie unterrichten an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Architektur und leiten das Institut für Urban Landscape. Gibt es einen Wandel unter jungen Architekt:innen oder träumen alle naiv davon, die neuen Herzogs und de Meurons zu werden?
SK: Ich spüre eine junge Generation, die sehr politisch ist. Gruppierungen wie «Countdown 2030» oder «Now What If» machen sich grundlegende Gedanken zur Architekturpraxis und um Netto-Null 2030. Ich setze viel auf diese jüngeren Architekt:innen.
LB: Beim nachhaltigen Bauen ist oft die Rede von grauer Energie. Also jener Energie, die durch die Baustoffe und das Bauen selbst verursacht werden und die Umwelt stark belasten. Wird ein Haus abgerissen, so wird diese Energie vernichtet.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, sagte schon der kleine Prinz. Müssen wir diesem Grau endlich mehr Beachtung schenken?
SK: Ja, aber das ist vor allem eine Herausforderung der Baubranche. Wichtig ist es mir hier, den Unterschied zwischen Bauen und Architektur zu machen. Das eine ist das Handeln nach architektonischem Wissen und das andere ist das Bauen, wie es vom Markt beeinflusst wird. Diese zwei Felder sind nicht immer verknüpft.
LB: Sie wollen nicht für die Vernichtung von grauer Energie verantwortlich gemacht werden?
SK: In der Architektur sind graue Energie und nachhaltiges Bauen schon lange Thema. Aber die Baubranche will sich nicht einschränken, und es geht meistens darum, einfach möglichst günstig zu sein. Institutionelle Bauherrschaften haben Renditeziele, mit ihnen zu diskutieren ist zermürbend.
Darum gibt es viele Architekt:innen, die sich einfach als Dienstleister:innen sehen und sich diesen Diskussionen entziehen. Klar sind jene mächtig, die Geld haben – und das sind selten die Architekt:innen. Wir haben aber unsere Hebel zu wenig genutzt.
Aber der Vorwurf, dass wir Architekt:innen schuld daran sind, dass durch Neubauten graue Energie vernichtet wird, weise ich vehement zurück. Abbruch und Neubau sind meist entschieden, bis wir zum Einsatz kommen. Wir hätten da früher Widerstand geben sollen.
LB: Egal, wer schuld daran ist, die Wohnungskrise ist Realität. Wie soll es weitergehen?
SK: Am nachhaltigsten wäre es, nicht zu bauen. Aber diese Position bringt uns auch nicht weiter. Das Grundbedürfnis nach einem Dach über dem Kopf besteht und die Nachfrage danach wird zunehmen. Darum sind nachhaltige Materialien und dass wir am Bestand weiterbauen, wichtig – so wenig bauen wie nötig, also.
Das sind keine radikalen Ideen, das Weiterbauen hat Tradition. Früher baute man schon immer im Bestand weiter. Dann kam die Moderne und mit ihr neue Technologien. Es wurde alles kurzlebiger – Tabula-Rasa und Neubauen sind eher neue Zeiterscheinungen.
LB: In Zürich wurden alleine im Jahr 2022 1151 Wohnungen zerstört. Mit dem Abriss geht tendenziell günstiger Wohnraum verloren. In der Konsequenz werden Menschen verdrängt.
SK: Und das Traurige: In den letzten Jahrzehnten hat vor allem eine Wohlstandanpassung stattgefunden. Gebäude aus den 70er-Jahren werden abgerissen und im Neubau wird dann der Standard, wie beispielsweise der Flächenverbrauch, nach oben korrigiert. Oft wird behauptet, dass die alten Wohnungen niemand mehr will und man im Neubau so bauen kann, wie es die Menschen wollen. Aber eigentlich wird hier nur für ein Budget gebaut: doppelt verdienende Paare, mit oder ohne Kinder.
LB: In den 1960er-Jahren verbrauchten 440'000 Stadtzürcher:innen 16 Millionen Quadratmeter Wohnfläche. Nun brauchen gleich viele 24 Millionen. Wären alle so bescheiden wie früher, könnten heute 660'000 Menschen in Zürich wohnen, schreibt Ernst Hubeli in der «Republik». Runter mit der Wohnfläche pro Person scheint eine naheliegende Lösung?
SK: Ja. In den letzten 20 Jahren erlebten wir einen grossen Bauboom, aber die Personendichte hat sich nicht verbessert, nur die Volumendichte ging nach oben. Das ist höchst dramatisch. Die Wohnfläche zu minimieren, ist ein wichtiger Hebel.
Wollen wir grundlegend etwas bewirken, wäre Verzicht und bewusster Umgang mit Ressourcen notwendig. Ein grundlegendes Thema der Architektur.
LB: Inwiefern?
SK: Die Architektur lehrt einen bewussten Umgang mit Konstruktion, den Einsatz von lokalen Materialien und Ressourcen. Man plant Räume, die einen Mehrwert bieten und nicht einfach Platz verschwenden. Bauherrschaften wollen aber meist möglichst viel für möglichst kleinen Preis. Das ist ein Konflikt zwischen Qualität und Quantität.
LB: Bei «Tsüri.ch» hatten wir kürzlich einen Fall, wo die Besitzerin im Bestand aufstocken wollte, ein ökologisches und sozial nachhaltiges Projekt. Doch die Umbaupläne scheiterten an den Bauvorschriften.
SK: Das ist ein weiteres Problem. Die Bauordnung ist für grüne Wiesen gedacht, aber nicht für Städte wie Zürich, wo das Weiterbauen am Bestehendem viel lösen könnte.
LB: Aber wenn die Wände lottern, die Bausubstanz marode, die Isolation schlecht und die Öl-Heizung nicht mehr zeitgemäss ist, ist der Abriss oft naheliegend. Kann man überhaupt nachhaltig umbauen und sanieren, ohne die Mieten zu erhöhen – oder stehen diese beiden Forderungen im Konflikt?
SK: Die Mieten haben leider wenig mit den realen Baukosten zu tun. Sie richten sich nach dem Markt – was Quatsch ist. Darum ist es als Investor:in attraktiv, allen Mieter:innen zu kündigen, abzureissen und neu zu bauen – so ist es ein Leichtes, die Mieten dem vermeintlichen Markt anzupassen.
Seriöse Immobilienbesitzer:innen hingegen amortisieren ihre Hypotheken. Heisst, die Miete müsste eigentlich mit den Jahren günstiger werden. Plus müssten Teile der Miete in Erneuerungsfonds bezahlt werden. Die Bewohner:innen bezahlen unter anderem Miete, damit ein Haus instand gehalten wird.
LB: Sind höhere Mieterträge durch Neubauten der einzige Grund, weshalb so selten etappenweise saniert wird?
SK: Nein, bewohnt zu sanieren, ist vom Management her anspruchsvoller als wenn das Gebäude leer ist. Man muss die Bauarbeiten mit den Wohnbedürfnissen koordinieren. Solche Umbauten können dann schon auch belastend werden für Bewohner:innen.
LB: Die Wohnungssuche in Zürich ist ebenfalls belastend.
SK: Ich sage ja nicht, dass die Leute nicht wollen, dass renoviert wird, während sie drin wohnen. Im Gegenteil, es wäre meist im Interesse der Mieter:innen. Es braucht einfach viel mehr Kommunikation zwischen den Parteien. Ich kenne beispielsweise ein Projekt, da haben die Bewohnenden vier Monate lang vor dem Haus in Containern geduscht.
Solche Dinge nimmt man in Kauf, wenn man die Wohnung behalten kann und die Miete tief bleibt. Es gibt viele kreative Übergangslösungen. Wenn die Bauherrschaft aber auf Rendite aus ist, dann werden sie leer kündigen oder neu bauen.
LB: Es scheint auch in anderen Bereichen an kreativen Lösungen zu fehlen: Ich bin kürzlich in eine neue Wohnung gezogen. Das grösste Zimmer war auf dem Grundriss mit «Elternschlafzimmer» betitelt – ich schlafe demnach im Kinderzimmer. Auch Neubauten richten sich nach dem Lebensstil einer klassischen Kleinfamilie. Sind diese Zeiten nicht vorbei?
SK: Die Immobilienbranche ist sehr konservativ, solche Grundrisse richten sich am klassischen Familienmodell aus. Auch heute werden noch neue Wohnungen nach dem Familienmodell der 1950er gebaut: die Frau am Herd, der Mann als Versorger und die Kinder zur Freude der Familie.
Dabei bräuchten wir eine Wohnungsvielfalt, die unterschiedlichsten Lebensmodellen gerecht wird. Diverse Angebote, für ein durchmischtes Milieu. Stattdessen werden 3-, 4- und 5-Zimmer-Wohnungen übereinander gestapelt, die alle gleich aussehen.
LB: In 4-Zimmer-Wohnungen kann man oft nur zu dritt leben, weil beispielsweise das vierte Zimmer ein offener Raum ist. Spinnt man das weiter, könnte man sich auch fragen, warum alle eine eigene Küche brauchen, wenn man am Tag vielleicht ein bis zwei Stunden diesen Raum braucht. Warum folgen Räume Funktionen?
SK: Das hat stark mit dem vermeintlich progressiven Familienbild der Moderne zu tun. In den Köpfen ist verankert, dass eine Wohnung eine Küche, ein offenes Wohnzimmer, ein Elternschlafzimmer und zwei kleine Kinderzimmer braucht. Alle Bauten sind darum funktional begrenzt, was dazu führt, dass man diese kaum umnutzen kann.
Auch mit Büroräumlichkeiten stehen wir vor diesem Problem. In Zürich gibt es einige leere Büros, aber die Normen und Standards stehen uns im Weg, diese als Wohnraum zu nutzen. Dabei würden ehemalige Bürokomplexe fantastische Wohnungen geben.
LB: Heisst, wir schränken uns mit Normen ein, planen am Bedarf vorbei und verdrängen gleichzeitig Menschen aus der Stadt?
SK: Ja. Von Experimenten will der Immobilienmarkt nichts wissen – lieber entscheiden sich Bauherr:innen für das Neubauprojekt, statt den Bestand kreativ weiterzudenken. Sie haben Angst, dass sie niemanden für solche experimentellere Wohnungen finden.
Es ist ein totaler Widerstand gegenüber Neuem – ausser, dass alles immer grösser sein soll. Die heutige Stadt ist ein Abbild der Gesellschaft und nicht der Architektur – leider. Das Bewusstsein für andere Lebensmodelle fehlt. Da sind wir als Gesellschaft eigenartig konservativ.
LB: Gibt es Vorzeigeprojekte in Zürich punkto nachhaltigem Wohnungsbau ohne Verdrängung?
SK: Die üblichen Verdächtigen: Die Genossenschaft Kalkbreite hat mit der Siedlung Kalkbreite oder dem Zollhaus super Experimente gewagt. Sie bauen für grosse Wohngemeinschaften, sparen Fläche pro Kopf ein und probieren sich im Hallenwohnen.
Viele dieser Wohnkonzepte sind gar nicht so neu. Schon in den 80ern wurde beispielsweise in autonomen Räumen herumexperimentiert. Von Besetzungen könnten wir auch heute noch viel lernen.
LB: Was?
SK: Sie zeigen, wie vielfältig man mit Räumen umgehen kann. Das sind Vorzeigeprojekte, wenn es um Umnutzung geht. Sie bauen ihre Umgebung im Bestand so, wie sie es brauchen. Dieser kreative Umgang mit Räumen in Besetzungen ist fantastisch.
LB: Die Ideen existieren also bereits, wie schaffen wir es als Gesellschaft, dass alle wohnen können?
SK: Aus fachlicher Sicht ist das kein Problem. Architektur kann alles, das ist leider nur vielen nicht bewusst. Aber eben das müssten auch alle anstreben.
Wohnen ist ein Grundrecht, eine Stadt muss inklusiv sein. Doch das sehen längst nicht alle so, es ist eine politische Frage und Haltung.
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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autorin Lara Blatter ist Co-Geschäftsleiterin und Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.