ETH-Stadtforscher: «Jede Leerkündigung ist eine Verdrängung»

Eine neue Studie zum Wohnraum in der Schweiz wies jüngst Ersatzneubauten eine wichtige Rolle zu. Doch Aspekte gingen darin unter, mahnt ein ETH-Stadtforscher.

Das Wichtigste in Kürze
- Eine neue Studie zum Wohnraum in der Schweiz wies Ersatzneubauten eine wichtige Rolle zu.
- Soziale und ökonomische Aspekte gingen darin jedoch unter, sagt ein ETH-Stadtforscher.
Im September veröffentlichte das Zürcher Forschungsinstitut Sotomo die Studie «Wohnraum für Zürich und die Schweiz – Wohnbau- und Bevölkerungsdynamik im Agglomerationsvergleich».
Ersatzneubauten, die immer mit einer Leerkündigung einhergehen, wurden darin in ein überraschend positives Licht gerückt, weshalb die Ergebnisse medial breit aufgegriffen wurden.
In Auftrag gegeben hat die Studie «Fürschi Züri», eine Initiative der Zürcher Handelskammer.
Tsüri.ch: Die jüngste Studie des Forschungsinstituts Sotomo im Auftrag der Zürcher Handelskammer wurde eifrig diskutiert. Sie hat ein ziemlich positives Bild von Leerkündigungen und Neubauten gezeichnet. Wie schätzen Sie die Studie ein?
David Kaufmann: Die Studie hat Erkenntnisse zu den sogenannten Umzugsketten hervorgebracht, aber ansonsten liefert sie nicht viel Neues.
In der Diskussion in Architektur- und Planungskreisen ist man eigentlich schon einen Schritt weiter. Dort geht es nicht um Neubauten, sondern darum, wie wir besser, anders und sinnvoll bauen können.
Aus meiner Sicht trägt diese Studie und die Berichterstattung nicht viel zur Debatte bei, sondern ist eher ein Rückschritt.
Tsüri.ch: Was sind Umzugsketten genau und was hat die Studie dazu herausgefunden?
Kaufmann: Wer für Neubauten argumentiert, stützt sich explizit oder implizit auf das Konzept der Umzugsketten und dessen «Trickle-Down-Effekt».
Soll heissen: Wenn neue Wohnungen entstehen, ziehen dort Menschen ein, die es sich leisten können, ihre alte Wohnung wird frei. Dort ziehen wiederum Menschen ein, die sich die mittel-teure Wohnung leisten können, und am Ende ist günstiger Wohnraum frei geworden.
Die Studie konnte zeigen, dass in der Zürcher Agglomeration primär Menschen aus der direkten Umgebung in Neubauten ziehen. Das Argument, dass Neubauten nur Auswärtige aufnehmen und den Ansässigen gar nicht zugutekommen, konnte sie widerlegen.
Zur Person
Prof. Dr. David Kaufmann ist Assistenzprofessor für Raumentwicklung und Stadtpolitik an der ETH Zürich. Er ist Vorsteher des Netzwerks Stadt und Landschaft und stellvertretender Vorsteher des Instituts für Raum- und Landschaftsentwicklung. Als Stadtforscher ist er auf Politikwissenschaft, Raumplanung, und Migrationsforschung spezialisiert. Im Juni veröffentlichte er die ETH-Studie «Bautätigkeit und Verdrängung in der städtischen Schweiz» mit.
Tsüri.ch: Man baut teure Wohnungen und hofft, dass am Ende einer Umzugskette günstige Wohnungen frei werden. Das klingt ziemlich um die Ecke gedacht. Man könnte ja auch einfach günstigen Wohnraum schaffen?
Kaufmann: Genau. Und der Wohnraum, der nach einer solchen Umzugskette frei wird, ist meist alter Wohnbestand, der sich in der Peripherie befindet. Und dieser steht dann wieder unter Druck, abgerissen zu werden.
Das kann auch zum Effekt der Mehrfachverdrängung führen, wenn einige Jahre später auch dieses Haus saniert oder ersetzt wird.
Auch das Problem einer Segregation in arme und reiche Gegenden wird verschärft. Man muss dieses «Trickle-Down-And-Out-Argument» deshalb kritisch hinterfragen. Ausserdem gibt es Probleme mit der Vorgehensweise der Studie.
Tsüri.ch: Zum Beispiel?
Kaufmann: Die Studie schaut sich nur die Anzahl Wegzüge an, aber prüft nicht, ob die Wohnung wirklich frei wird.
Bei einer Trennung, wenn erwachsene Kinder ausziehen oder jemand aus einer WG auszieht, wird aber keine Wohnung frei.
Und meine grösste Kritik ist: Es gibt keine Einkommensdaten. Die Studie konnte nicht zeigen, ob es einen positiven Effekt für Menschen mit tiefem Einkommen gibt, sondern nur für Menschen, die in der Nähe wohnen.
Und das Wichtige an der Debatte ist ja, ob sich die Wohnsituation auch für einkommensschwache Menschen verbessert.
Tsüri.ch: Während die Wohlhabenden sich die zentrale Neubauwohnung leisten können, müssen die Einkommensschwächeren in den Altbau in der Peripherie ausweichen?
Kaufmann: Das irritiert mich an dieser Studie: Sie sagt, Neubau helfe gegen Verdrängung, aber er hilft eben nur einer reichen Bevölkerungsschicht – und verdrängt eine arme Bevölkerungsschicht.
Das wird einfach ignoriert, und die Berichterstattung hat dieses Framing noch verstärkt. Nicht alle tragen die Kosten der Verdrängung im gleichen Ausmass.
Das Risiko trifft die vulnerable Bevölkerungsschicht ungleich stärker. Und das ist ein sozialpolitisches Problem.

Tsüri.ch: Laut der Studie gehen nur ein Prozent der Wegzüge auf Leerkündigungen zurück. Ab wann spricht man eigentlich von Verdrängung?
Kaufmann: Aus der Forschungsperspektive ist jede Leerkündigung eine Verdrängung. Denn nur aufgrund der Kündigung müssen die Mieterinnen und Mieter etwas Neues suchen.
Andere Phänomene, beispielsweise wenn man sich die Miete nicht mehr leisten kann, sind indirekte Verdrängungen.
Aber Gemeinden, Wirtschaftsakteure und auch diese Studie setzen andere Massstäbe und behaupten, wenn jemand im gleichen Quartier, der gleichen Gemeinde oder gar der gleichen Region eine neue Wohnung findet, sei das keine Verdrängung.
Tsüri.ch: Die Studienautorinnen und Studienautoren singen ein Loblied auf den Ersatzneubau. Aber in der Stadt Zürich bringen diese oft nur wenige neue Wohnungen hervor, zeigt die Studie.
Kaufmann: Ein paar Punkte dazu: Auch wenn ich 100 Wohnungen durch 500 ersetze, gibt es immer noch 100 Parteien, die verdrängt werden – und zwar erneut vor allem Personen mit tiefem Einkommen.
Zweitens wird in Zürich extrem viel abgerissen, weil der Platz knapp ist, aber der Effizienzgewinn dabei ist sehr gering. Wenn ein zweistöckiges Haus durch ein vierstöckiges ersetzt wird, ist das nicht effizient.
Man müsste hier den Fokus auf Einfamilienhäuser richten, denn dort kann es grosse Effizienzgewinne geben.
Aufstockungen sind in Zürich noch viel weniger üblich als etwa in Genf. Aufstocken ist eine gute Möglichkeit, ebenso wie das Neubauen in Siedlungslücken oder am gut angeschlossenen Rand von Siedlungsflächen.

Tsüri.ch: Bei einer Aufstockung können die bisherigen Mieterinnen und Mieter in der Wohnung bleiben und werden somit nicht verdrängt. Auch die Mieten sollten eigentlich gleich bleiben.
Kaufmann: Deshalb gelten Aufstockungen als sanftere Form der Verdichtung. Dass die Mieten gleich bleiben, wäre das Ziel. In Genf ist das der Fall, aber in Zürich oftmals nicht, weil es keine Mietpreisregulation gibt, die das verlangen würde.
Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer haben immer den finanziellen Anreiz, eine Totalsanierung durchzuführen, um die bestehenden Wohnungen teurer vermieten zu können. Hier gibt es ein Regulationsloch.
Tsüri.ch: Die Studie streicht positiv hervor, dass Neubauten gar nicht viel teurer seien als Bestandswohnungen nach einem Umzug. Woran liegt das?
Kaufmann: Die Studie hält zwar fest, dass Neubauten die Mietpreise nicht so stark anheizen, das liegt aber daran, dass die Mieten sowieso schon so hoch sind und die Vermieterinnen und Vermieter sehr stark auf den Markt und auf Quartierüblichkeit reagieren können.
Bestandsmieten werden nach einem Mieterinnen- oder Mieterwechsel stark erhöht, sodass diese sich den Neubauten angleichen.
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Hinweis: Dieses Interview ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autor Dominik Fischer ist Redaktor beim Zürcher Stadtmagazin.